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Fiesta-Reportage aus Spanien

Die "Feuerläufer" von San Pedro Manrique

In der Johannisnacht erwartet sie alle ein heißer Tanz – mein Besuch bei den "Feuerläufern".

Enrique, 39, Familienvater, selbstständig, wird in dieser Nacht zum neunzehnten Mal barfuß über die Glut laufen. Ein langer, kerniger, früh ergrauter Naturtyp, für den der Wahnsinn später ganz normal ist. Einer, der unter Beweis stellt, was ein Mensch aushalten kann, wenn er nur will. Einer, der die lokale Gottesmutter und Jungfrau Virgen de la Peña vorsorglich um Schutz bitten wird. Als einziger guter Grund für sein Vorhaben fällt ihm ein: "Weil ich Sanpedrano bin." Einer aus San Pedro. Genauer: aus San Pedro Manrique, einem 600-Seelen-Ort im spanischen Abseits. Ein einsames Fleckchen Erde auf der Hochebene von Kastilien-León, durchzogen von schmalen Gassen und ziegelgedeckten Bruchsteinhäusern, überragt von Burgruinen, umgeben von sachten Hügeln, Schweinezuchtbetrieben. In der Nähe leiten Schilder zu versteinerten Dinosaurierspuren, die Provinzhauptstadt Soria liegt vierzig Kilometer entfernt. Kaum jemand würde sich hierher verirren, wäre da nicht diese Fiesta, die bis Ende des Monats dauert und gleich zu Beginn durch ein Ritual gekrönt wird, das es sonst nirgendwo in Spanien gibt: den "Feuergang", Paso del Fuego, in der Johannisnacht auf den 24. Juni.

Ich bin früh angekommen in San Pedro Manrique, rechtzeitig zur Prozession, die im Abendlicht vom Marienkirchlein im Oberdorf zur Kapelle im Unterdorf führt. Vorneweg haben Frauen einen Aufbau mit der Skulptur des heiligen Petrus geschultert, dahinter folgen die Männer mit dem Bildnis der Virgen de la Peña, der "Jungfrau vom Fels", die nun ihre Sommerresidenz bezieht. Die dafür vorgesehene Kapelle Humilladero liegt gleich neben dem Altenheim. Für die Prozession hat sich jeder landfein gemacht, die Dorfkapelle spielt dazu und langt bei manchem Ton daneben.

Straßen und Rathausplatz sind mit Plastikfähnchen geschmückt, der Aushang vor der Kneipe Los Alemanes besagt: Würstchen ab ein Uhr. Nachts, wohlgemerkt. Ein steiler Aufgang führt zum Recinto Paso del Fuego, dem "Feuerlauf-Areal", das direkt an den Sakralbau Virgen de la Peña grenzt. Das Freiluftrechteck fasst dreitausend Schaulustige, vor der mitternächtlichen Showtime werden die Steintribünen bis auf den letzten Winkel besetzt sein. In der Mitte ist ein Stoß aus zwei Tonnen Eichenholz aufgeschichtet, im Winter geschlagen, bis jetzt getrocknet. Tief unten im Stapel steckt verdorrtes Buschwerk, das wirken wird wie Zunder. Es ist kurz vor 21 Uhr, als einige Männer den Scheiterhaufen mit Zeitungspapier in Brand stecken. "Alles muss gut und gleichmäßig runterbrennen, den Untergrund haben wir vorher gekehrt", erklärt mir Domingo, Mitglied des Feuerteams. Sollte ein Steinchen, Glassplitter oder Metallstück übersehen worden sein, könne es später zu Brandwunden kommen. Ansonsten trage niemand Schäden davon, hat mir Feuerläufer Enrique versichert und hinzugesetzt: "Der Erste, der überrascht ist, dass nichts passiert, bin ich selber, das kannst du mir glauben." Nur in einem Jahr habe es ein paar Brandbläschen an seinen Füßen gegeben. "Kaum der Rede wert", so Enrique. Auch Diego, 35, der in diesem Jahr zum Organisationsstab gehört und bereits fünfmal gelaufen ist, hat laut eigener Aussage alles unbeschadet überstanden. Auf die Frage nach dem Survival-Rezept für sein Gehwerkzeug antwortet er: "Man muss nur im Kopf vorbereitet sein, nicht körperlich." Angst? "Nein, einfach los, aber ohne Eile, mit festen, gleichmäßigen Schritten." Derlei Stampftechnik soll die entscheidenden Augenblicke lang die Zufuhr an Sauerstoff unterbinden, die der Verbrennungsvorgang benötigt.

Was nicht dahinter steckt, ist ein Materialtrick, wie der niederbrennende Stapel zeigt. Flammen und Hitzeentwicklung sind immens und vertreiben Besucher, die in den ersten Reihen Platz genommen haben, in den Oberbereich der Tribünen. Funken stieben umher und fliegen ins Publikum, später spüre ich auf Haut und Haaren eine Panierschicht aus Ascheteilchen. Internationale Brandschutzvorschriften scheinen außer Kraft gesetzt, kein Feuerwehrmann steht in Bereitschaft, der Rest der Welt ist weit weg in der Johannisnacht von San Pedro Manrique.

Gegen halb elf ist der Holzstapel in sich zusammengesackt, jetzt beginnt das Feuerteam allmählich mit der Bereitung der alfombra, des "Teppichs" aus Glut. "So kompakt wie möglich", erklärt mir Rafael, der einen übermannshohen Stab in der Hand hält und die größeren Holzkohleteile zerpeitscht und verteilt. Etwa drei Meter lang, knapp handspannenhoch, vielleicht fünfzehn Zentimeter, perfekt geglättet – so sieht der fertige Teppich schließlich aus, vor dessen Längsenden kurz vor Beginn des Spektakels Säcke mit kühlender Erde gekippt werden.

"Jeder, der durch das Feuer geht, hat seine eigene Geschichte dahinter, das kann ein Versprechen sein. Oder weil es einfach Tradition ist", sagt Rafael und säubert seine Brille von Asche. Wie lange diese Tradition zurückreicht, für die jeder in San Pedro Manrique Feuer und Flamme ist, vermag niemand genau zu sagen. Fest steht, dass einzig den Dörflern der Ritus vorbehalten bleibt, durch die Glut zu gehen. Ausgeklammert bleiben Zugezogene und Leute von auswärts, was mich automatisch davor bewahrt, meinen "Selbstversuch Spanien" in einer Spezialklinik für Brandverletzungen weiterzuschreiben. Nur ihnen, den Sanpedranos, wohnt dem hiesigen Verständnis nach die Gabe inne, in der Johannisnacht unbeschadet das Feuer zu passieren. Will man dem Ganzen einen tieferen Sinn geben, der über glühenden Lokalpatriotismus, Gelübde und Mutprobe hinaus geht, kommt man nicht an der symbolischen Purifizierung des Menschen und der Abwehr böser Kräfte vorbei, die mit dem weit verbreiteten Brauchtum der Johannisfeuer und Sommersonnenwendfeiern einhergehen.

Kurz vor Mitternacht.

Es ist fast soweit, der Himmel düster, die Stimmung gespenstisch, magisch.

"Wie soll da ein Mensch durchgehen, selbst wenn er Hornhaut hat wie ein Quechua in den Anden?", frage ich mich mit Blick auf das Glutmeer, das vor mir wabert und zuckt.

Tribünen und Innenraum sind zum Bersten gefüllt, Fernsehteams aller wichtigen spanischen Sender zugegen und viele Kinder sowieso. Seit dieser Woche sind Sommerferien. Applaus brandet auf, als die Freundeskreise, peñas, die Autoritäten und die Festdamen, móndidas, in die Arena einziehen. Derweil entledigen sich die Läufer ihrer Schuhe, krempeln die Hosenbeine hoch und formieren sich unter Kapellenklängen zu einem archaischen Reigentanz rund um den Teppich. Letzte Gelegenheit, sich gegenseitig Mut zu machen, in Autosuggestion zu verfallen, Atmung und Schrittfolge noch einmal durchzuspielen. Oder ganz zurückzustecken – doch das tut niemand.

Zehn nach zwölf. Ein spitzes Horn ertönt, das Startsignal. Der erste Läufer, ein älterer, etwas bullig, steht bereit. Angespannt, konzentriert. Er nimmt eine der drei feschen móndidas huckepack, schließt kurz die Augen, dann geht er zielstrebig los. Barfuß über den Teppich aus Glut. Ein Ritual ohne Netz und doppelten Boden. Sechs, sieben, acht Schritte. Das Publikum zählt lauthals mit, Fotografen streuen Blitzlichtgewitter, der letzte Schritt geht im Jubel unter, seine Miene hellt sich auf. Glückwünsche, Küsse, Umarmungen erwarten den Läufer. Dann geht es Schlag auf Schlag, jeweils angekündigt mit Fanfare. Der Pfarrer steckt nicht zurück, auch der Bürgermeister nicht.

Fast jeder trägt irgendwen durch das Feuer, die Partnerin, den Sohn, die kleine Tochter, bei Enrique ist es in dieser Nacht eine Cousine. Die zwei Frauen, die heute erstmals die Glut überwinden, kommen allein. Sie werden besonders angefeuert (nie hat der Ausdruck besser gepasst!), ebenso wie ein junger Mann, der den Schmerz kaum verbergen kann. Sein Gesicht verkrampft sich, es riecht – ich sitze kaum zwei Meter entfernt in der ersten Reihe – nach versengter Haut, aber nicht nur bei ihm. Der Geruch relativiert den Glauben an Wunderkräfte und ruft mir einen Hautarzt ins Gedächtnis, der mir einst Warzen mit einer Art Brennstab auslöschte. Eine auf ewig eingebrannte Erinnerung aus einer Kindheit in Deutschland.

Nach jedem Feuerlauf verschwinden die Fußabdrücke, die Helfer glätten die Fläche aufs Neue mit Stöcken. Wer genau den Paso del Fuego wagt, steht vorher nicht fest. Heute sind es knapp zwanzig Mutige, ein guter Durchschnittswert.

Um viertel vor eins ist das Schauspiel vorbei.

Die Dorfkapelle spielt wieder auf, das Volk wälzt sich aus der Arena. Der Sanitätsdienst, der draußen wartet, hat eine ruhige Schicht verlebt – doch die Nacht ist noch lange nicht zu Ende. Im Los Alemanes gibt es gleich Würstchen und auf dem Hauptplatz Bierausschank, vor den Rathausarkaden bereitet sich eine Band auf den Auftritt vor. Musik und Tanz bis halb fünf – und in San Pedro Manrique ein gutes Jahr Zeit, um dem nächsten Paso del Fuego so richtig entgegenzubrennen.