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Reisereportage aus Bolivien

Im Silberberg von Potosí

Zu spanischer Kolonialzeit zählte Potosí zu den reichsten Städten Südamerikas. In den Stollen des legendären Silberberges schinden sich Indios wie vor vierhundert Jahren.

„Bringt den Bergmännern Zigaretten und Koka mit”, sagt Ricardo und deutet auf Straßenstände mit Säcken voll Kokablätter, handgedrehten Glimmstengeln, Dynamitstangen und Klumpen, die grauen Kieseln ähnlich sehen. „Geschmacksverstärker aus gepresster Asche, die man mit Koka langsam im Mund aussaugt”, erläutert Ricardo. Täglich führt der junge Historiker Besucher über den Vorortmarkt der mineros, danach an die Abhänge des Cerro Rico heran und mitten hinein in die schmalen Stollen. Reines Silber finden die Bergleute längst nicht mehr. Die Kolonialmacht Spanien schöpfte die Reichtümer seinerzeit ab, verschiffte sie flottenweise nach Europa, steckte sie in zivile und kirchliche Prachtbauten und verpulverte sie in unnützen Kriegen – während Potosí langsam ausblutete.

Mächtig erhebt sich der Cerro Rico über der bolivianischen Andenstadt. In der glasklaren Höhenluft schaut man durch die Gassenschneisen auf den 4700-Meter-Riesen: ein karger Kegel in Braun- und Rostrotfacetten, zerfurcht von hellen Gesteinsadern. Was wohl passiert wäre, wenn der Schäfer Huallpa niemals ein Lama im Gebirge verloren, an den Hängen des Berges übernachtet, ein Lagerfeuer entzündet und am nächsten Morgen geschmolzenes Silber rund um die Feuerstelle entdeckt hätte? So aber drang die Kunde von Huallpas Silberwunder ans Ohr der Spanier. Im Jahre 1545 waren sie zur Stelle, gründeten Potosí und gaben dem Sumaj Orko einen neuen Namen: Cerro Rico, Reicher Berg. Bis zum Ende der Kolonialzeit im 19. Jahrhundert durchlöcherten sie ihn mit fünftausend Stollen und Schächten und trieben acht Millionen Indios in den Tod. Der Cerro Rico war das Tor zur Hölle.

Ein dunkles Loch schluckt uns. Es ist stickig. In der dünnen Luft hängen Staub und Schwefelgestank. Ricardo hat uns mit Stiefeln, Helmen, Schutzjacken und Lampen ausgerüstet. Im zuckenden Schein der Handlämpchen folgen wir ihm auf Schritt und Tritt, schweren Atems, immer an den Lorengleisen entlang, tief hinein ins Erdreich. Zwei Meter breit und zwei Meter hoch mag der Gang sein, an Wänden und Decken sehen wir hölzerne Stützbalken und Luftrohre. Unter den Absätzen schmatzt der Schlamm. In einer Felsnische blicken wir unverhofft in zwei starre, weit aufgerissene Augen und weichen erschrocken zurück. Sogleich erschallt das dumpfe Lachen unseres Begleiters, der uns dem tío de la mina vorstellt, dem Minenkerl, dem symbolischen Beschützer des Stollens. Die armlange Stoffpuppe ist übersät mit Kokablättern. Allmorgendlich bringt jeder Arbeiter ein kleines Opfer dar, um den tío gütig zu stimmen. „Legt ihm auch ein paar Blätter hin”, fordert uns der Guide auf. Schaden kann es nichts.

Plötzlich stößt Ricardo einen Warnschrei aus: „Achtung, auf Seite!”
Es rüttelt und rumpelt im Stollen. Drei Lichter lösen sich aus der Finsternis, kommen nah und näher. Dann die Schemen einer Lore, drei keuchende menschliche Schatten und ein Luftzug. Der Boden vibriert, der metallene Lärm geht durch Mark und Bein.
Noch heute ist alles Knochenarbeit in den Minen von Potosí. Mit Seilwinden ziehen die Bergmänner Körbe voller Gestein aus den Schächten in den Hauptstollen, stemmen sie auf Schulterhöhe, entleeren sie in die Loren, schaufeln Brocken hinzu, rollen die Schienenwagen hinaus ins Freie, saugen Frischluft hoch über dem Talkessel von Potosí ein, kippen ab und eilen zurück. Im Tiefinnersten arbeitet, im Staub kaum zu sehen, das Bohrteam. Vor ihre Gesichter haben die Männer feuchte Lappen gebunden. Masken gibt es nicht, auch keinen Hörschutz gegen den unerträglichen Lärm. „Viele werden keine Vierzig”, sagt Ricardo.

Von der vormals reichsten Silbermine der Welt ist einzig ein Abglanz geblieben. Zinn und Eisen und etwas Silber, Legierungen zweiter und dritter Wahl. Unermüdlich gehen mehrere tausend Bergmänner zu Werke. Sie schuften in Kooperativen oder auf eigene Faust und hoffen auf ein neues Silberwunder. An der Minenarbeit verdienen die Trenn- und Purifizierungsfirmen kräftig mit. Nutznießer sind auch die Agenturen im Stadtzentrum von Potosí, die Stollentouren arrangieren und mit Slogans locken wie: „In der Mine sehen Sie Bergleute wie zur Kolonialzeit.” Das Schlimme daran: Es stimmt! Die Arbeit ist menschenunwürdig. Dankbar nehmen die beschämend freundlichen Indios Zigaretten- und Kokapräsente an. Damit betäuben sie Hunger und Höhenbeschwerden und degradieren sich bei den zweischneidigen Begegnungen mit den Besuchern zu Almosenempfängern. Der Guide stellt uns einen jungen Mann vor, der sich gerade eine neue Ladung Koka in den Mund schiebt. Unter der gespannten Wangenhaut verbirgt sich ein riesiger Pfropfen aus ausgesaugten Blättern. Gerade achtzehn ist er, schuftet seit zwei Jahren in Stollen und Schächten, genau wie sein Vater. „Wir haben nur die Mine”, sagt er und schaut betrübt zur Seite.

Zur Kolonialzeit verwandelten die Spanier Potosí in Amerikas größte Stadt ihrer Epoche – und in eine der reichsten. Um 1640 lebten hier über 150.000 Menschen, ein Drittel mehr als heute. Über eigens angelegte Transportwege kam der Nachschub an Nahrung aus den fruchtbaren Tälern, während das Silber über die Hochlandrouten an die Pazifikhäfen abfloss. Heute ist Potosí Weltkulturerbe und bitterarm wie das übrige Bolivien. Die Kolonialvergangenheit lebt an wappenverzierten Häusern fort, in vierzig reich dekorierten Kirchen und vor allem der Casa de la Moneda. Die vor Jahrzehnten geschlossene Münzstätte nimmt einen ganzen Block im Zentrum ein und beherbergt eines der landesweit wichtigsten Museen. Hinter dem Barockportal erwarten uns Patios mit hölzernen Galerieumläufen und prachtvolle Salons mit Gemälden einheimischer Meister. Walzen, Waagen, Tiegel und Karren erinnern an die Zeiten der Silberschmelze und der Münzprägungen. In Vitrinen sehen wir Tragegestelle und aus Fell gefertigte Knieschoner der Arbeiter von einst.

In ganz Lateinamerika steht der Cerro Rico als Symbol für Knechtschaft, Barbarei und Ausbeutung. Statistiken über den kolonialen Raub der Reichtümer gibt es nicht. Nur eine Redensart. All das Silber aus Potosí, so sagt man, hätte ausgereicht für den Bau einer Brücke: einer Brücke nach Spanien.