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Spanien – Gesellschaft, Alltag, Kultur

Familie in Spanien

Es bröckelt und bröckelt und bröckelt – Spaniens klassisches Familienbild verändert sich kontinuierlich. Setzen sich die Tendenzen der jüngsten Vergangenheit fort, droht den althergebrachten Strukturen und Hierarchien der definitive Untergang. Aus Frauensicht gar nicht von Übel, denn allzuoft hatte man sich daheim in bestem Südländerstil mit einem groben Machoknochen und einer Kinderschar in Orgelpfeifenformation abplagen müssen. Heute wird landesweit alle vier Minuten eine Ehe geschieden, mit knapp 1,3 Kindern pro Frau steht Spanien bei den Geburtenraten am Ende der europäischen Skala. Ohne die in den letzten Jahren aus Afrika und Lateinamerika hinzugeströmten Emigrantinnen sähe dererlei Gebärstatistik noch düsterer aus. Warum?

Heimlich, still und leise hat sich auf dem Arbeitsmarkt eine Geschlechterrevolution vollzogen. Teils aus natürlichem Drang, teils aus materieller Notwendigkeit. Aus Spaniens vormals in die Küchenecke gedrängten Hausfrauen sind Frauen geworden, die an jedweden Fronten ihren Mann stehen – selbst beim Militär. Heute verlangen die sprunghaft gestiegenen Lebenshaltungskosten selbst in konventionellen Partnerschaften nach zwei Ernährern. Da bleibt für den Nachwuchs kaum Zeit und noch weniger Geld. Traditionsgemäß stiehlt sich Vater Staat bei Familienbeihilfen aus der Verantwortung. Kinderkriegen scheint in einem vordergründig kinderfreundlichen Land auf demselben Level zu stehen wie Kindermachen: Privatvergnügen. Aus Lust wird rasch Frust, aus der Frucht der Liebe ein Luxusartikel auf zwei Beinen. Das Rückgrat der künftigen Gesellschaft bleibt auf befremdliche Weise außen vor und spielt selbst in Wahlkämpfen keine Rolle. Kaum zu glauben, dass Spaniens Kinder und Familien den Politikern nicht einmal falsche Versprechungen wert sind! Unter strikten Auflagen gibt es Kindergeld erst seit Beginn des Jahrtausends, aber längst nicht für alle und ausschließlich für den Nachwuchs bis zu drei Jahren. Danach ist eh‘ Schluss, noch bevor der Ernst des Lebens so richtig begonnen hat. Ganz im Sinne von Verdrängungsmentalität hat bislang niemand unter Spaniens roten oder schwarzen Politspitzen einen Gedanken daran verschwendet, wer die rapide überalternde Gesellschaft irgendwann einmal mit seiner Arbeitskraft finanzieren soll. Im Jahre 2020 wird ein Drittel der Spanier älter als 65 Jahre sein – nicht gerade rosige Aussichten.

Die Statistik besagt, dass Spaniens Frauen ihr erstes Kind im Durchschnitt jenseits der Dreißig zur Welt bringen. Wer per Ferndiagnose sexuelle Spätzündung attestiert, liegt schlichtweg falsch. In España wogen die Hormone nicht anders als andernorts, das verkrustete Paarungsverhalten ist längst aufgebrochen – doch der Schritt von der Sexualität bis zum fassbaren Produkt ist auch hier dem Rahmen sozialer Zwänge unterworfen. Viele Endzwanziger und Anfangdreißiger strecken nach wie vor ihre Füße unter den Tisch von Papa und Mama. Weniger aus Bequemlichkeit, denn aus überlebensnotwendiger Ersparnis. Kauf- und Mietpreise von Wohnungen sind allerorten in astronomische Höhen geschnellt, die Gehälter jedoch bodenständig geblieben. Wer im Kinderzimmer von immer wohnt, vermag wenigstens einen kleinen finanziellen Grundstock für den Sprung in die Unabhängigkeit anzuhäufen. Und diese endet oft wild, vor Jahrzehnten unter erzkatholischer Fuchtel undenkbar. Heute schweigt der Klerus den florierenden vorehelichen Verkehr lieber tot, wilde Ehen gelten mehr oder minder als gesellschaftsfähig – wobei mit den allseitigen Aufbrüchen Zustände und Begrifflichkeiten ohnehin ins Wanken geraten sind. Darf sich nicht ein bekennendes Gaypaar, das sich bei der Guardia Civil ein Zimmer teilt, nun ebenfalls als Familie definieren? Was, wenn der Sprössling den erstaunten Eltern den Schwiegersohn in spe vorstellt? Altdiktator Franco, der die traditionelle Familie über alles setzte, würde sich im Grabe umdrehen …

Wer sich heute in herkömmlichen Partnerschaften zum Kind entschließt, muss die anstehende Organisation des Alltags detailgetreu durchdenken. Da viele neugeborene Eltern weder auf Geld noch Karriere verzichten und am Abend gerne ein aufgeräumtes Domizil vorfinden möchten, beißen sie in den sauren Finanzapfel und beschäftigen Haushaltsdame und Kindermädchen in einer Person. Hier ist in letzter Zeit ein weites Arbeitsfeld entstanden, das vor allem ungelernte Kräfte aus Ostblockstaaten und Lateinamerika beackern. Zu niedrigen Löhnen bügeln und wienern und wickeln sie – und vernachlässigen nicht selten das Kind, von pädagogischen Mühen keine Spur. Alternativen für Null- bis Dreijährige sind öffentliche und private Kindergärten, danach beginnt die Vorschule. Oder man gibt den Sprössling, zumindest für einen Teil des Tages, zur Oma, die womöglich gerade in Rente gegangen ist und nun einem Unruhestand der besonderen Art entgegensieht. So fällt ihr das Hausfrauendasein zum zweiten Mal im Leben zu, nach den eigenen Kindern jetzt die Enkel. Andererseits festigt gerade dies wieder die Familienbande – allerdings auf einer gänzlich anderen Ebene als bislang bekannt.